Heute schon gebrüllt? Emotionale Hygiene zum Aggressionen abbauen

Emo-was? Habe ich noch nie gemacht. Zähneputzen kenne ich!

Aber mittlerweile denke ich, genauso wie Zähneputzen sollte auch Emotionale Hygiene einen festen Platz im Alltag finden. Aber was verbirgt sich eigentlich dahinter?

Emotionen stauen sich auf

Weltreisen ist in jeder Hinsicht herausfordernd. Motorradfahren bei allen Wettern auf teilweise unbefestigten Straßen fordert Kondition und Konzentration bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Die tägliche Suche nach einem sicheren Schlafplatz oder einer Einkaufsmöglichkeit lassen wenig Raum für wiederkehrende Routinen. Fremde Kulturen, fremde Sprachen – die Menge der neuen Eindrücke übersteigt schlicht alles, was ich in meinem Leben je gemacht habe. Ganz zu Schweigen von dem logistischen Aufwand einer Motorradreise ans andere Ende der Welt, der Ersatzteilbeschaffung oder der ein oder anderen behördlichen Auseinandersetzungen (Mexiko weigert sich immer noch, uns die Kaution für die temporäre Motorradeinfuhr zurückzuzahlen…).

Und all das mit dem Reisepartner des Vertrauens – seit gut einem Jahr ein Minisozialsystem auf vier Quadratmetern.

Da wundert es wahrscheinlich niemanden, dass in anstrengenden Zeiten Frust, Ärger und Wut hochkochen. Und in Ermangelung eines anderen Ventils wird sich herzhaft gestritten. Auch wenn darüber in den Hochglanz-Weltreisemagazinen niemand schreibt.

Irgendwann bricht der Emotions-Staudamm

Bereits vor mehr als einem halben Jahr bei der Durchquerung einer Wüste in den USA beginnen wir, zugegebener Maßen unfreiwillig, uns bewusster mit den „innenpolitischen Prozessen“ auseinanderzusetzen. Ein anstrengender Tag liegt hinter uns, Sonne, Hitze, off-road mit zwei vollgepackten Reiseenduros durch teilweise sandige Passagen und als Sahnehäubchen die ein oder andere Flussdurchquerung durch Geröll. Wir sind erschöpft und stecken zum tausendsten Mal irgendwo im losen Wüstenboden fest. Die eh schon angeheizte Stimmung kocht endgültig über. Warum man denn da nicht einfach mal mit Schwung durchfahren kann. Warum man denn nicht einfach auf der asphaltierten Straße drumrumfahren kann. Wo den dieser bekackte Campground sein soll, den wir schon seit Stunden suchen. Durch unsere Helme brüllen wir uns über das umgestürzte Bike an. Wir schmeißen uns Sachen an den Kopf, die wir uns in der Deutlichkeit noch nie gesagt haben. Tränen der Verzweiflung fließen.

Nach einer Weile haben wir alles gegeben und wissen nichts mehr hinzuzufügen.

Und dann passiert etwas unerwartetes: Anstatt jetzt erst richtig sauer aufeinander zu sein, fühlen wir uns merkwürdig erleichtert – und fangen beide an zu lachen. Einfach so. Die gesamte Situation kommt uns unglaublich absurd vor.

Lange noch denke ich später über diese Szene nach, um etwas lehrreiches aus der Anekdote zu ziehen. Ich denke, dass ich zwei wichtige Dinge gelernt habe:

1. Erlaube, Emotionen auszudrücken!

Wir kommen als Deutsche aus einer emotional eher „kühleren“ Kultur. Jeder, der mal eine Busfahrt in Lateinamerika erlebt hat, weiß, was ich meine. Das Credo als Deutscher lautet wohl eher: sachliche, dienliche Kommunikation. Man möge außerdem ruhig und überlegt handeln. Ein bisschen fröhlich ist ok, aber bitte auch nicht ausrasten vor Glück. Man will ja nicht stören.

Bereits als kleines Kind lernen wir unsere Gefühle zu dosieren und vor allem die sogenannten „negativen“ Emotionen wie Wut, Ärger, Trauer und Agression nach Möglichkeit zu unterdrücken. Seit ich angefangen habe, mich mit dem Thema auseinandersetze, bin ich ernüchtert mitzuerleben, wie viele kleine schreiende Kinder von gestressten Eltern auf den Arm genommen werden und im guten Vorsatz des Trostes mit irgendwas abgelenkt werden. Ganz beliebt: was Lustiges. Oder was Süßes.

Viel zu spät im Leben begreifen wir, dass Emotionen gar nicht lästige Begleiterscheinung des Menschsein, sondern unser eigentlich unser heilender Energiekompass sind. Sie zeigen uns auf, wo etwas gegen unsere Interessen läuft und, noch viel wichtiger, sie geben uns auch die Energie, die Situation entsprechend unserer Interessen und Werte zu korrigieren. Theoretisch.

Den ersten Teil davon haben wahrscheinlich die Meisten verinnerlicht. Ich bin selten grundlos wütend. Aber vor der Energie meiner Emotionen habe ich häufig großen Respekt, um nicht zu sagen manchmal sogar Angst. Viel zu oft habe ich als kleiner Mensch damit negative Erfahrung gemacht. Wie oft hört man schon von einem Erwachsenen: „Ich verstehe total warum du hier rumschreist, ich liebe dich dafür und ermutige dich dazu alles rauszulassen! Danach lass uns zusammen herausfinden, wie du die Situation zu deinen Wünschen ändern kannst.“???

Als meine geliebte Frau mich ob der oben beschriebenen misslichen Situation anfing anzubrüllen, war mein erster Impuls sehr erstaunlich: ich fühlte mich erleichtert! Die Lage war wirklich Käse, also gab es vernünftige Gründe, richtig, richtig sauer zu sein. Wir waren ganz allein in der Wüste und konnten somit auch keinen stören. Auch sehr wichtig, als Deutscher. Und wenn meine Holde hier draußen volle Kanne Dampf vom Kessel lassen kann, scheint es außerdem gruppendynamisch akzeptiert zu sein, sich ungefiltert auszudrücken. Welch bewusstseinserweiternde Erfahrung für mich, wo ich doch so gerne alle Gefühle in rationale Bahnen lenken will!

2. Mach emotionale Hygiene!

Kleine Kinder machen es uns vor: nach einem ereignisreichen Tag rennen sie abends wie von der Tarantel gestochen herum, springen in die Luft, werfen sich auf den Boden, machen Krach und drücken sich einfach mit ihrem ganzen Körper und ihrer Stimme aus. Dann fallen sie ins Bett und wachen morgens (meist) zufrieden und glücklich auf, bereit für ein neues, intensives Abenteuer.

Dann kommt irgendwann das Alter, wo man „das nicht mehr macht“. Großer Fehler, meiner Meinung nach. Nicht nur, dass uns als Erwachsene die Energie der Emotionen nicht als Lebensenergie zu Verfügung steht, wie brauchen auch noch zusätzlich Energie, um sie zu unterdrücken.

Wie geht Emotionale Hygiene?

Also, was machen wir jetzt? Nun, das Gleiche, was kleine Kinder tun! Allerdings können wir als Erwachsene natürlich selbst entscheiden, wann und wo wir uns ungehemmt ausdrücken wollen. Zu empfehlen ist ein Ort, wo wir niemanden stören. Als Erwachsene haben wir schließlich durchaus Verantwortung für unser Handeln.

Als Motorradreisender kann man z.B. für sich in seinem Helm herumbrüllen und schimpfen (Intercom ausschalten nicht vergessen!). Aber auch abends unter der Dusche, im Wald oder am Strand funktioniert Emotionalhygiene für mich gut. Hier kann man dann auch den ganzen Körper mit einbeziehen und – ganz nach dem Vorbild der kleinen Emotionsexperten – herumspringen, auf den Sand schlagen, ins Gebüsch brüllen und einfach alles rauslassen.

Ich muss gestehen, dass ich weit davon entfernt bin, dieses Ritual als komfortabel zu empfinden. Zu tief sitzen die Muster, dass man „das nicht macht“. Aber immerhin bin ich mittlerweile so weit, dass ich meine Emotionalhygiene am Strand machen kann, wenn andere Leute so ca. fünfzig Meter entfernt sind. Ich ertappe mich aber immer noch bei dem Gedanken „hoffentlich guckt keiner“. Und dann denke ich mir: „der andere Affe da hinten macht Yoga im Sonnenuntergang, das sieht auch bescheuert aus!“ – und mache weiter.

Und der Nutzen?

Stück für Stück trage ich die aufgestaute Energie aus meinem Keller ab und drücke sie endlich aus. Zunächst echt kein Spaß und es kostet mich viel Disziplin und Überwindung. Am Anfang kommt auch immer noch mehr hoch, dass man glatt den Mut verlieren kann, die Emotionalhygiene durchzuziehen. Aber nach einer Weile stellt sich Interesse und Freude ein. Es geht immer schneller, die Energie raus- und loszulassen und ich merke, dass ich entspannter und ausgeglichener werde. Ich kann auch flexibler auf Situationen reagieren.

Neugierieg? Dann probier es doch auch mal aus und schreib uns von deinen Erlebnissen!

Andreas


Dir gefällt unser Blog und du willst unsere Arbeit unterstützen? Dann freuen wir uns, wenn du unseren Amazon-Partnerlink benutzt oder schau bei Support Us! vorbei!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert