Auf der Suche nach der Wahrheit

In Mexiko haben wir Gelegenheit, viele Kirchen aus der Spanischen Kolonialzeit zu besichtigen. Glaube und Religion genießen neben Familie und Freundschaft einen hohen Stellenwert in der mexikanischen Kultur. Als katholische Rheinländer staunen wir nicht schlecht, in den größeren Städten wie Puebla und Oaxaka an jeder zweiten Straßenecke ein imposantes Gotteshaus zu sehen, dass an Opulenz, Orgelwerk und Ornamenten viele deutsche Kirchen in den Schatten stellt. Wenn das die Kölner wüssten…

Insbesondere haben es uns die Statuen angetan, die hier eine bemerkenswerte Ausstrahlung haben, die wir so andernorts noch nicht erlebt haben. Während man in deutschen katholischen Kirchen vornehmlich einen gekreuzigten Christus über dem Altar und diverse Heiligenfiguren vorfindet, gibt es hier in Mexiko auch Statuen des Leichnams im Sarg und des auferstandenen Christus‘.

Bei der Darstellung des Toten gingen die Künstler für unsere Verhältnisse wenig zimperlich zu Werk. Blutüberströmt liegt Er lebensgroß mit aufgeschlagenen Knien, zerfetztem Fleisch und entstellten Gesichtszügen in einem Sarg. Niemand da, der um ihn trauert. Niemand da, der den Leichnam wäscht und salbt. Niemand da, der ihm die verdrehten Augen schließt.

Was ist das für ein Mensch, dieser Jesus von Nazareth, der die Welt seit 2000 Jahren auf den Kopf stellt?

Während ich allein mit dem Toten in einer kleinen Seitenkapelle der Kathedrale von Puebla sitze und über Sein Lebenswerk sinne, erscheint mir eine neue Vorstellung von Ihm, die mein Christusbild verändert.

Als Jugendlicher war ich leidenschaftlicher Messdiener. Bereits als Kind wusste ich, wie unsagbar wichtig den Erwachsenen die heilige Zeremonie war. Und wie hoch geschätzt es wurde, wenn die Messdiener militärisch geordnet voller Andacht ohne Gähnen und Schwanken die Messe zelebrierten. Dabei war Jesus für mich immer jemand, der heilig auf einem Sockel steht. Was hat man als kleiner Sünder schon zu melden? Jesus als Vorbild? Das schafft man doch eh nicht. Man kann nur beten und hoffen, dass man irgendwann gerettet wird.

Aber jetzt bin ich hier in Mexiko, fernab der guten rheinischen Kirchenordnung. Hier vibriert das Leben. Draußen scheppert ein LKW ohne Auspuff mit Fehlzündungen vorbei, dass fast die Scheiben aus den Fenstern fliegen und eine Blaskapelle rockt Salsa auf dem Kirchenvorplatz, dass der Lüster im Takt klirrt. Keine verklärten Heiligenbildchen, kein Weihrauch, keine rechtwinklig schreitenden Messdiener. Fernab von Andacht und ordentlichem Benehmen habe ich Gelegenheit, Christus von einer ganz anderen Seite – nämlich als Menschen kennenzulernen. Es fühlt sich förmlich so an, als würde er mit mir zusammen in der Kapelle sitzen. Nur wir beide.

Und da geschieht etwas mit mir, mit meinem Herzen. Ich fühle die Wahrheit. Den Kosmos und das Sandkorn, die Ewigkeit, die Leere und die Stille. Plötzlich ist Er nicht mehr in unerreichbarer Ferne, sondern ganz nah und reicht mir die Hand. Er ist mein Bruder.

Ich fühle auf einmal Seine Kraft und Stärke, mit der Er durchs Leben ging, die Wahrheit, die von Ihm ausstrahlt. Kein lieber netter Heiliger, der ganz fromm gebeugt und demütig sein Haupt neigt, so wie wir im Rheinland Messe feiern. Ich begegne einem Mann mit der Ausstrahlung eines Kriegers. Einem Mann, der eine Vision in die Welt bringt für die er bereit ist, alle irdischen Prüfungen auf sich zu nehmen. „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. (Mt 10,34-35; EU)“. Ich treffe einen Mann, der gekommen ist, um kompromisslos die Illusionen abzutrennen von dem Licht. Denn was kann bestehen, beim Anblick der Wahrheit?

Diese Stunde mit Christus ist nun schon ein paar Tage her und beschäftigt mich immer noch. Was passiert, wenn man endlich den ganzen Firlefanz der Religionen ablegt, endlich aussteigt aus dem Karussell „mein Gott ist aber besser als deiner“? Und sich auf den Weg zu seinem Herzen macht? Sich aufmacht zu sich selbst, zu seinem Ursprung? Sich aufmacht, dass Göttliche in sich zu finden? Auszusteigen aus den Hamsterrädern der Gesellschaft, um ein wahrhaftiges und authentisches Leben zu führen, das einem jeden entspricht, jeden Tag, jeden Moment? Seine Talente zu entfalten und Licht in die Welt zu bringen? Und bereit zu sein, damit anzuecken, das Salz zu sein, das dem faden Dasein wieder Pepp verleiht?

In diesem Sinne inspirierende Grüße von einer Reise durch die Welten

Andreas


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